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Statistische Verzerrung: Eine unerwünschte Auswirkung auf Daten

Die Wissenschaft der Daten verstehen

10 Dezember 2025 9minuten

Dieser Artikel wurde in MedinLux veröffentlicht und ist Teil einer gemeinsamen Anstrengung, statistische und epidemiologische Konzepte den Angehörigen der Gesundheitsberufe in Luxemburg zugänglich zu machen.

Klinische Studien bilden das Fundament der evidenzbasierten Medizin. Ihre Validität kann jedoch durch das Vorhandensein von Verzerrungen (engl. bias) beeinträchtigt werden – systematische Fehler, die die Interpretation der Ergebnisse verfälschen. Ob sie bei der Auswahl der Teilnehmenden, der Datenerhebung, der Analyse oder sogar nach der Veröffentlichung auftreten, Verzerrungen können zu falschen Schlussfolgerungen führen und letztlich die medizinische Praxis beeinflussen. Ihre Existenz zu erkennen, sie so weit wie möglich zu vermeiden und sie bei der Interpretation der Ergebnisse zu berücksichtigen, sind entscheidende Schritte, um die wissenschaftliche Qualität der Forschung zu stärken und die Relevanz der daraus abgeleiteten klinischen Entscheidungen zu gewährleisten.


EINLEITUNG

Die Zuverlässigkeit klinischer Studien beruht auf ihrer Fähigkeit, die Realität widerzuspiegeln. Dieses Erfordernis wird jedoch durch Verzerrungen geschwächt – systematische Fehler, die die Ergebnisse in eine bestimmte Richtung verschieben. Im Gegensatz zu Zufallsfehlern, die eine inhärente, aber neutrale Variabilität darstellen, beeinträchtigen Verzerrungen die interne Validität, also die Belastbarkeit der innerhalb der Studie gezogenen Schlussfolgerungen, sowie die externe Validität, das heißt die Möglichkeit, die Ergebnisse auf andere Populationen oder Kontexte zu übertragen.

Eine Studie kann in ihrem Ablauf zwar stimmig erscheinen, doch wenn ihre Teilnehmenden nicht repräsentativ für die Zielpopulation sind oder die Messungen verzerrt werden, verlieren ihre Schlussfolgerungen an praktischer Relevanz. Die Erkennung und Begrenzung von Verzerrungen stellt daher eine zentrale Herausforderung dar, sowohl bei der Planung der Studie als auch bei der Analyse und Interpretation der veröffentlichten Ergebnisse. Keine klinische Studie ist völlig frei von Verzerrungen, doch deren Identifizierung und Berücksichtigung ermöglichen es, die Schlussfolgerungen einzuordnen und den Wert datenbasierter medizinischer Entscheidungen zu stärken.

KLARE ABGRENZUNG ZWISCHEN VERZERRUNG UND ZUFALLSFEHLER

Eine Verzerrung entsteht bereits bei der Stichprobenziehung. In der Praxis ist es selten möglich, die gesamte Population zu untersuchen, meist aufgrund von Zeit- und/oder Budgetbeschränkungen. Daher wird eine Stichprobe ausgewählt, die die Zielpopulation möglichst gut widerspiegeln soll (Abbildung 1).

Es ist wichtig, die Verzerrung vom Zufallsfehler zu unterscheiden. Letzterer entsteht durch Stichprobenschwankungen, beeinflusst lediglich die Präzision der Schätzer und verteilt sich ähnlich über die untersuchten Gruppen. Die Verzerrung hingegen verschiebt die Ergebnisse systematisch in eine bestimmte Richtung. Um das Beispiel der Dartscheibe zu verwenden (Abbildung 2): Die Varianz beschreibt die Streuung der Würfe um den Mittelwert (je enger sie beieinanderliegen, desto kleiner die Varianz), während die Verzerrung dem Abstand dieser Würfe vom Zentrum der Zielscheibe entspricht.

Man unterscheidet mehrere Hauptkategorien von Verzerrung je nach dem Zeitpunkt ihres Auftretens im Forschungsprozess: bei der Rekrutierung der Teilnehmenden (Selektionsverzerrung), bei der Datenerhebung (Informationsverzerrung) oder während der Analyse (Störfaktoren).

SELEKTIONSVERZERRUNG

Diese Verzerrungen (engl. selection bias) treten bei der Einschluss-, Nachbeobachtungs- oder Ausschlussphase der Teilnehmenden auf und erschweren die Verallgemeinerung der Ergebnisse auf die Gesamtbevölkerung. Sie entstehen auch, wenn sich die Vergleichsgruppen (z. B. Fälle/Kontrollen oder Exponierte/Nicht-Exponierte) deutlich unterscheiden, etwa durch einen höheren Männeranteil in einer Gruppe oder weniger junge Personen in einer anderen. Selektionsverzerrung kann zu einer Unter- oder Überschätzung des untersuchten Effekts führen. Er lässt sich in mehrere Typen unterteilen.

Stichprobenverzerrung

Diese Verzerrung (engl. sampling bias) liegt vor, wenn die Stichprobe die Zielpopulation nicht angemessen widerspiegelt, zum Beispiel, wenn die Teilnehmenden ausschließlich aus einem Krankenhaus stammen und nicht aus verschiedenen Versorgungsbereichen.

Schweigeverzerrung

Diese Verzerrung (engl. nonresponse bias)entsteht, wenn Personen, die nicht an der Studie teilnehmen, sich statistisch von den Teilnehmenden unterscheiden (z. B. im Hinblick auf Alter, Geschlecht oder Beruf). Die Nichtteilnahme kann darauf zurückzuführen sein, dass bestimmte Fragen als irrelevant für das Studienthema angesehen werden oder sensible Themen betreffen. Die Verzerrung wird durch den Vergleich der Merkmale von Antwortenden und Nicht-Antwortenden erfasst. Er kann reduziert werden, indem Anreize (monetär oder nicht), Erinnerungsschreiben oder kürzere Fragebögen eingesetzt werden.

Freiwilligenverzerrung

Diese Verzerrung (engl. volunteer bias), auch als Selbstselektionsverzerrung (engl. self-selection bias) bekannt, tritt sie auf, wenn nur Freiwillige an der Studie teilnehmen. Diese Personen sind häufig besonders an Forschung oder ihrer eigenen Gesundheit interessiert. Ihre Merkmale können sich daher von denen der Personen unterscheiden, die eine Teilnahme ablehnen (z.B. geringeres Risikoverhalten, „gesündere“ Lebensweise). Dies ist das Gegenstück zur Schweigeverzerrung.

Healthy-Worker-Effekt

Dieser Effekt (engl. healthy worker bias)tritt auf, wenn nur erwerbstätige Personen in die Studie aufgenommen werden. Beispiel: Eine Firma untersucht Muskel-Skelett-Erkrankungen bei Büroangestellten. Befragt werden nur Beschäftigte, die während des Untersuchungszeitraums im Betrieb anwesend sind. Dadurch werden Personen mit schweren Erkrankungen, die krankgeschrieben sind, indirekt ausgeschlossen, was zu einer Unterschätzung der Prävalenz führt.

Berkson’s Paradoxon

In Fall-Kontroll-Studien tritt diese Verzerrung (engl. Berkson’s bias) auf, wenn die Kontrollgruppe ausschließlich aus hospitalisierten Patientinnen und Patienten besteht. Diese Kontrollen repräsentieren nicht die Allgemeinbevölkerung, da die Wahrscheinlichkeit eines Krankenhausaufenthalts sowohl von der Exposition als auch von der Krankheit abhängt. Konkret: Eine Person mit mehreren Erkrankungen wird häufiger hospitalisiert als jemand mit nur einer Erkrankung, die Vergleichbarkeit ist dadurch verzerrt. Bildlich gesprochen ist es, als wollte man herausfinden, wer Zug fährt, aber nur die Fahrgäste der ersten Klasse beobachtet: Man würde fälschlicherweise annehmen, dass alle bequem reisen, ohne die Personen in der zweiten Klasse oder im Stehen zu sehen.

Verzerrung durch Schrumpfung

Diese Verzerrung (engl. attrition bias) tritt in Langzeitstudien auf, wenn Teilnehmende aus der Studie ausscheiden. Der Abbruch kann verschiedene Ursachen haben (z. B. Unzufriedenheit mit der Behandlung, Nebenwirkungen), steht jedoch oft in Zusammenhang mit der Intervention selbst. Dadurch wird das Endergebnis beeinflusst, und der Effekt der Behandlung kann überschätzt werden. Eine systematische Übersichtsarbeit aus dem Jahr 2012 (1) zeigte, dass in etwa jeder fünften Studie die Schlussfolgerungen ihre statistische Signifikanz verloren, wenn Ereignisse bei den verloren gegangenen Teilnehmenden berücksichtigt wurden. Zur Minimierung dieser Verzerrung wird eine Intention-to-Treat-Analyse dringend empfohlen, bei der alle Teilnehmenden einbezogen werden, unabhängig davon, ob sie die Studie abgeschlossen haben oder nicht.

Neyman-Verzerrung

Diese Verzerrung (engl. Neyman bias), auch als Prävalenz-Inzidenzverzerrung (engl. prevalence-incidence bias) bezeichnet, entsteht, wenn die Auswahl der Teilnehmenden auf Prävalenzfällen (d.h. Überlebenden) und nicht auf Inzidenzfällen (neuen Fällen) beruht. Die schwersten Fälle, die mit höherer Wahrscheinlichkeit versterben, werden somit ausgeschlossen, wodurch die Stichprobe die betroffene Population nicht mehr repräsentiert.

Die Vermeidung von Selektionsverzerrung erfolgt hauptsächlich in der Planungsphase einer Studie, durch eine sorgfältige Auswahl der Datenquellen (Register, Gesundheitsleistungen, Fragebögen, tragbare Geräte usw.) und der Rekrutierungsmethoden. Nach der Datenerhebung lassen sich diese Verzerrungen nur schwer korrigieren.

INFORMATIONSVERZERRUNG

Diese Verzerrung (engl. information bias) betrifft die Informationen, die von den Teilnehmenden erhoben werden, und kann zu Fehlklassifikation führen: Personen werden nicht korrekt den Gruppen „krank / nicht krank“ oder „exponiert / nicht exponiert“ zugeordnet. Fehlklassifikation tritt auf, wenn die Exposition subjektiv, ungenau oder zeitlich variabel ist. Änderungen können in den Antworten der Teilnehmenden auftreten:

  • Soziale Erwünschtheit (engl.social desirability bias), eine Verzerrung seitens der teilnehmenden Person, entsteht, wenn sie eher „akzeptable“ als wahrheitsgemäße Antworten gibt. So kann Alkoholverbrauch heruntergespielt oder körperliche Aktivität übertrieben dargestellt werden.
  • Beobachterverzerrung (engl.observer bias), die von der befragenden Person ausgeht, entsteht, wenn diese die Antworten der Teilnehmenden bewusst oder unbewusst beeinflusst. Eine Möglichkeit, diese Verzerrung zu reduzieren, besteht darin, die befragende Person zu verblinden. Bei Befragungen muss zudem eine spezifische Schulung erfolgen.
  • Hawthorne-Effekt (engl.hawthorne effect), der auftritt, wenn Teilnehmende ihr Verhalten ändern, weil sie wissen, dass sie beobachtet werden.

Erinnerungsverzerrung (engl. recall bias), eine kognitive Verzerrung, tritt auf, wenn Teilnehmende sich nicht genau an Ereignisse erinnern können, etwa an das Auftreten einer Erkrankung oder bestimmter Symptome. Ein kurzer Zeitraum zur Definition der Exposition/Krankheit ist ideal. Werden Daten nach bestimmten Ereignissen erhoben (z. B. nach einem Krankenhausaufenthalt), sollten sie möglichst früh gesammelt werden, damit nicht ausschließlich die „negativen“ Erinnerungen haften bleiben.

Proxy-Antwortverzerrung (engl.proxy bias) entsteht, wenn Informationen nicht direkt bei der betroffenen Person erhoben werden, sondern bei einer Drittperson (Angehörige, Familienmitglieder, Pflegekräfte). Diese Personen haben oft einen unvollständigen und/oder verzerrten Blick auf die Realität. Dies kann etwa bei Befragungen in Pflegeheimen oder bei Studien zur Ernährung von Kindern auftreten (Eltern wissen nicht immer, was tatsächlich in Schulen gegessen wird).

Vorlaufzeitverzerrung (engl.lead time bias) liegt vor, wenn eine Krankheit früher erkannt wird, was den Eindruck einer besseren Versorgung vermittelt, obwohl die Behandlung die Erkrankung nicht beeinflusst. Kurz gesagt: „Man gewinnt Diagnosezeit, nicht Lebenszeit.“ Abbildung 3 zeigt diese Verzerrung.

Überdiagnoseverzerrung (engl. length time bias), der mit der Vorlaufzeitverzerrung verwechselt werden kann, betrifft eher langsam verlaufende Erkrankungen: Personen mit weniger schweren Verläufen werden leichter entdeckt als solche mit aggressiveren Erkrankungen. Hier gilt: „Die Gescreenten sind gesünder.“

In Studien mit diagnostischen Tests tritt eine Verifikationsverzerrung (engl. verification bias) auf, wenn nur ein Teil der Teilnehmenden mit dem Referenztest untersucht wird, was die Zahl der falsch positiven Ergebnisse des neuen Tests beeinflusst.

STÖRFAKTOREN

Diese Form der Verzerrung (engl. confounding bias) entsteht hauptsächlich während der statistischen Analyse. Ein externer Faktor, der sowohl mit der Exposition als auch mit der Erkrankung zusammenhängt, kann die Interpretation des tatsächlichen Effekts verzerren. Wir haben dies bereits im vorherigen Artikel zur Kausalität erwähnt.

NACH DER STUDIE

Auch nach Abschluss einer Studie bleiben bestimmte Verzerrungsarten bestehen. Am bekanntesten ist die Publikationsverzerrung (engl. publication bias), bei der positive Ergebnisse häufiger veröffentlicht werden als negative oder neutrale. Eine weitere häufige Verzerrung ist die Bestätigungsverzerrung (engl. confirmation bias), bei der Ergebnissen, die die ursprünglichen Erwartungen stützen, mehr Gewicht beigemessen wird.

KERNAUSSAGE

Es ist schwierig, wenn nicht unmöglich, alle Verzerrungen in einer Studie zu kontrollieren. Doch ihr Bewusstsein und das Verständnis ihrer Bedeutung sind entscheidend: Sie ermöglichen eine bessere Einschätzung der Stärken und Grenzen veröffentlichter Arbeiten, eine bessere Interpretation der Ergebnisse und tragen letztlich zur Qualität datenbasierter klinischer Entscheidungen bei. Das Studiendesign ist daher eine besonders wichtige Phase zur Vermeidung von Verzerrungen, indem geeignete Methoden von Methodikexpertinnen und -experten eingesetzt und die zu prüfenden Hypothesen hierarchisch vorab spezifiziert werden.
Eine sorgfältige Prüfung des Abschnitts Methodik eines wissenschaftlichen Artikels, auch wenn er manchmal als schwierig oder trocken empfunden wird, ermöglicht es häufig, das Vorhandensein oder das Risiko von Verzerrungen zu erkennen, die die Validität der Ergebnisse beeinträchtigen könnten.


Réferences

  1. Akl EA, et al. BMJ 2012;344:e2809
  2. https://catalogofbias.org/biases/lead-time-bias/

Die in MEDINLUX veröffentlichten epidemiostatistischen Reihen.

Scientific Contact

Competence Centre for Methodology and Statistics (CCMS)

MEDINLUX

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